Konzepte und Prinzipien
Wing Chun basiert auf Prinzipien!
Aus den Prinzipien gehen Techniken und Formen hervor. Das ermöglicht Anpassungen an veränderte Umweltbedingungen. Bei den Prinzipien selbst handelt es sich um Respezifikationen allgemeiner Axiome der Wissenschaft und asiatischen Philosophie. Der Grundsatz des form follows principle erlaubt eine Varianz der Ausführungen bei gleichzeitiger Konstanz der Prinzipien (was z.B. die enorme Bandbreite unterschiedlicher Ausführungen der Formen im Wing Chun erklärt). Der Prinzipienvermittlung gilt das Hauptaugenmerk unseres Unterrichts. Bleibt sie aus, entstehen Burgen aus Sand – und verschwinden mit der nächsten Flut.
Übergreifende Prinzipen:
- Yin & Yang: Wing Chun als Einheit von Differenz
- Gleichzeitigkeit: Wing Chun als Ökonomie der Bewegung
- Energiefluss: Wing Chun als perpetual movement
- Zentrallinie & Triangulation: Wing Chun als physikalische und geometrische Formbildung
- Wu-Wei: Wing Chun als Handeln im Nicht-Handeln
Unter Einhaltung der Prinzipien gelten folgende Konzepte bzw. Faustregeln:
- Ist der Weg frei, dann stoß vor!
- Stößt Du auf Widerstand, bleib kleben!
- Ist der Widerstand zu stark, gib nach!
- Zieht sich der Gegner zurück, dann folge! (siehe Punkt 1)
Formen
Das Wing Chun System besteht aus den vier waffenlosen Formen
- Siu Nim Tao (kleine Idee-Form)
- Chum Kiu (suchende Arme-Form)
- Biu Tze (stoßende Finger-Form)
- Muk Yan Chong (Holzpuppenform)
sowie den beiden Waffenformen
- Luk Dim Poon Kwan (Langstock-Form)
- Baat Chum Dao (Doppelmesser-Form)
Die sechs Formen bilden vorrangig einen Fundus von Prinzipien, Konzepten
und Strukturen – und nur nachrangig ein Set von Techniken. Techniken sind
lediglich Erscheinungsformen von Prinzipien, Konzepten und Strukturen in Raum
und Zeit. Jede Form setzt andere Schwerpunkte. Beispielsweise schulen Fook und
Tan Sau der Siu Nim Tao das Ellbogenprinzip, während Chum Kiu, Biu Tze und
Holzpuppenform unterschiedliche Zeit- und Kampfkonzepte beinhalten.
Die Formen greifen logisch ineinander. Sie liefern das Gesamtbild des Wing Chun Systems. Wie beim Puzzeln mit Kindern gilt im Wing Chun der Lehr- und Lerngrundsatz hermeneutischen Verstehens: Die Vorstellung vom Ganzen (Wing Chun) präzisiert sich dadurch – und nur dadurch -, dass ein Teil (Formen) nach dem nächsten ineinander greift. Umgekehrt präzisiert die Kenntnis der Teile (Formen) – und erst sie - die Vorstellung vom Ganzen (Wing Chun).
Während vielerorts Biu Tze, Holzpuppenform und Waffenformen dem Schüler lange vorenthalten bleiben, in schwülstiger Rhetorik zu sog. höheren Techniken stilisiert und ihre Vermittlung und Anwendung an die Investition von viel Geld und Ergebenheitsadressen gekoppelt werden (oder wegen Unkenntnis ausbleiben), besteht unser Qualifikationsanspruch darin, jedem Schüler je nach Trainingseinsatz und Fortschritt in nachvollziehbaren und erreichbaren Schritten das ganze Bild an die Hand zu geben. Das Verstehen und Austrainieren der Formen bleibt ein lebenslanger Prozess.
Chi Sao
Wichtiger Bestandteil des Wing Chun Trainings ist das Chi Sao, die sog.
klebenden Hände. Der Mensch ist primär ein Sehwesen. Mit keinem anderen
Sinneskanal kann er mehr Informationen aufnehmen (3.000000bit/sec), zerebral
verrechnen (8bit/sec) und speichern (Kurzzeitgedächtnis: 0,7bit/sec).
Insbesondere im Nahkampf sind visuelle Informationsverarbeitung und
Reflexleitung schnell überfordert. Wird es zu viel, kommt es reflektorisch zum
Lidschluss der Augen.
Die Idee des Chi Sau ist es, für diese Situationen
einen weiteren verlässlichen Sinneskanal zu konditionieren: die taktile
Informationsverarbeitung (ca. 200.000bit/sec). Die Arme der Übungspartner stehen
dabei unter Einhaltung bestimmter Winkel, Punkte und Prinzipien in permanentem
Kontakt. Das Ziel der klebenden Hände-Übung besteht darin, in kontinuierlichen
Bewegungsschleifen automatische Reaktions- und Aktionsmuster unter Ausschluss
des Zentralnervensystems einzuüben. Die richtige Entscheidung bzw. (Re-) Aktion
soll erfühlt, nicht erdacht werden. Richtig ist, was funktional ist, d.h. in
einer gegebenen Konstellation als Problemlösung erscheint
Das Chi Sau
Training umfasst Übungsformen in unterschiedlichen Komplexitätsstufen: der
Anwendung von Prinzipien in vorgegebenen Abfolgen über Power Drills
(isometrisches Krafttraining) bis hin zu Gwoh Sau bzw. freiem Chi Sau. Das Chi
Sau Training sollte sich an keiner Stelle zum Paartanz verselbstständigen, der
genau solange funktioniert, wie eingespielte Akteure eines Stils in
eingespielter Rollenverteilung miteinander üben. Chi Sau selbst ist kein Kampf.
Es simuliert den Augenblick der Kontaktaufnahme mit dem gegnerischen Angriff
sowie das Folgehandeln. Gegen Tritte, Fußfeger, Beingriffe und –hebel kommen die
gleichen Prinzipien im sog. Chi Gerk zur Anwendung.
Anwendungen
Wing Chun ist ein reines
Selbstverteidigungssystem, kein sportlicher Leistungsvergleich auf der Basis
wechselseitig akzeptierter Regeln. Das Ziel aus Sicht des Wing Chun ist einfach:
für den Fall einer unausweichlichen Bedrohungssituation die Auseinandersetzung
so schnell wie möglich zu kontrollieren. Ein zentraler Aspekt, der in jedem
Training angemessene Berücksichtigung erfährt, ist demzufolge die Anwendung.
Prinzipien und Techniken aus Formen- und Chi Sau-Training werden
übersetzt in spezifische Drills, halboffene und offene Sparringsformen sowie
realitätsnahe Szenarien – in allen Distanzen, gegen einen und mehrere Gegner,
mit und ohne Waffen. Fragen der Effektivität des Systems und vor allem der
individuellen Umsetzungsfähigkeit entscheiden sich hier. Aus der
Anwendungssituation heraus werden passende Lösungen und Fehler produktiv im
Sinne einer Lernschleife in das Training rückgekoppelt und für den weiteren
Feinschliff in Sachen Distanzgefühl, Timing, Gleichzeitigkeit,
Anpassungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen genutzt.
(Quelle: Kampfkunstakademie Bergheim)